Zürich: DNA-Proben bringen die Ermittler auf die Spur eines Gewaltverbrechers (2023)

DNA-Proben bringen die Ermittler auf die Spur des Täters.

Claudia Rey

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Zürich: DNA-Proben bringen die Ermittler auf die Spur eines Gewaltverbrechers (1)

Am Anfang dieser Geschichte steht für den zuständigen Staatsanwalt eine junge Frau die nach einer Partynacht Strafanzeige erstattet. Sie sagt, ihr seien K.-o.-Tropfen verabreicht worden. Als sie in einen Zustand geraten sei, in dem sie unfähig gewesen sei, sich zu wehren, sei sie geschändet worden.

Der Staatsanwalt weiss, dass solche Vieraugendelikte schwer aufzuklären sind. Und sie enden selten mit einer Verurteilung des mutmasslichen Täters. Er befürchtet, dass auch dieser Fall im Sand verlaufen wird. Doch der Fall ist anders, als er in diesem ersten Moment glaubt. Er ist von grosser Tragweite. Und es gibt weitere Opfer. Eines von ihnen ist Maggy Sanchez*.

Tatort 1: Bäckeranlage, 20.Juni 2021, 5 Uhr

Sanchez besucht gemeinsam mit Freunden in der Nacht auf Sonntag, den 20.Juni 2021, den Klub «El Presidente» an der Zürcher Langstrasse. Sie will abschalten, tanzen und vergessen, was sie in den letzten Monaten erlebt hat.

Sanchez wurde von Menschenhändlern aus Kolumbien nach Europa verschleppt. In Zürich sollte nun alles besser werden. Unterstützt von den Behörden und der Opferhilfe versuchte sie, ihr Trauma zu verarbeiten. Sie machte eine Therapie, bekam Medikamente gegen Depressionen. Doch statt besser kam es für Sanchez in dieser Nacht im Juni 2021 schlimmer.

Als es an der Langstrasse zu dämmern beginnt, finden Passanten Sanchez besinnungslos in einem zerrissenen Kleid vor der Bäckeranlage, nur wenige hundert Meter vom Klub entfernt. Sanchez hat Blutergüsse an den Oberschenkeln, abgebrochene Fingernägel und einen kaputten Zahnschutz – so steht es in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft. Die Passanten alarmieren die Polizei, sie vermuten, dass Sanchez vergewaltigt worden ist. Auf Spanisch erzählt sie von Männern, die über sie hergefallen seien.

Sanchez wird ins Unispital gebracht. Die Ärzte stellen im Genitalbereich oberflächliche Schleimhautabschürfungen und unter den Fingernägeln sowie in der Vagina fremde DNA fest.

Bei der Befragung durch die Polizei erleidet Sanchez eine Panikattacke, auf der Toilette muss sie sich übergeben. Dann erzählt sie, im Klub sei ihr von Freunden ein Mann vorgestellt worden. Dieser habe ihr Avancen gemacht. Als sie um 5 Uhr habe allein nach Hause gehen wollen, habe er ihr angeboten, ein Uber-Taxi zu organisieren und sie bis zum Auto zu begleiten.

Gemeinsam hätten sie die Bäckeranlage durchquert. In einer dunklen Ecke habe er versucht, sie zu küssen, seine Hosen ausgezogen und sie mit Gestik aufgefordert, ihn oral zu befriedigen. Sie habe sich gesperrt und gesagt, dass sie das nicht wolle. Daraufhin habe er sie am Oberarm gepackt, ihr mit der Faust ins Gesicht geschlagen und sie auf die Wiese geworfen. Er habe ihr Kleid zerrissen. Sie habe versucht, sich zu wehren, aber er habe weiter geschlagen und sie gewürgt, bis sie das Bewusstsein verloren habe. Als sie wieder zu sich gekommen sei, habe sie gemerkt, dass er sie vergewaltige. Es sei es ihr dann gelungen, wegzurennen und über ein Tor zu klettern.

Sie sagt, die Todesangst, die sie in diesem Moment gefühlt habe, sei das Schlimmste, was sie je erlebt habe. Laut ihrer Anwältin wurden Sanchez’ Depressionen durch die brutale Vergewaltigung verstärkt. Sie leide seither unter Albträumen und habe wiederholt geäussert, sich das Leben nehmen zu wollen, sagt die Anwältin.

Tatort 2: Hauptbahnhof, 20.Juni 2021, 5 Uhr 40

Zum Zeitpunkt, als die Sanität sich vor der Bäckeranlage um Sanchez kümmert, besteigen Lucas Pereira* und Hugo Lopez* an der Langstrasse den Bus der Linie 31 in Richtung Hauptbahnhof. Es ist 5 Uhr 40. Sie hören im Bus laut Musik. Einer der Fahrgäste fordert sie auf, die Musik auszuschalten. Es kommt zu einem Wortgefecht. Am Bahnhof steigen Lopez und Pereira mit ihren Freunden aus. Sie gehen die Treppe hinunter zum Shop-Ville, einer der beiden ruft dem Passagier eine Beleidigung zu. Dieser steigt aus dem Bus, schnappt sich eine Metallstange, rennt der Gruppe hinterher und schlägt Lopez zweimal gegen den Kopf. Er erleidet eine Rissquetschwunde am Hinterkopf.

Gemäss der Anklageschrift versucht Pereira dann, den Fahrgast von Lopez wegzustossen. Daraufhin kickt der Mann Pereira gegen die Brust und wirft ihm eine Bierflasche an den Kopf. Die absplitternden Scherben zerschneiden Pereiras Arm so heftig, dass Blut fontänenartig herausspritzt. Die Wunden müssen notfallmässig im Universitätsspital Zürich genäht werden und hinterlassen Narben.

Tatort 3: Wallisellen, 8.Oktober 2021

Dreieinhalb Monate nach dem Angriff leidet Hugo Lopez noch immer unter Ängsten. Im Bus dreht er sich nun stets um, wenn sich jemand auf den Platz hinter ihn setzt. Zu dieser Zeit, es ist Anfang Oktober, besucht Ilaria Nikolic* mit Freunden eine Privatparty in Wallisellen. Dort lernt die 17-Jährige einen Mann kennen. Sie mag ihn – auch weil er ihr zeigt, wie toll er sie findet.

Als Nikolic auf die Toilette geht, versucht der Mann, sich ihr anzunähern. Er schliesst die WC-Tür von innen ab, fasst ihr an die Brüste, versucht, sie zu küssen. Nikolic wehrt ihn ab, sagt, sie wolle das nicht. Er erwidert, es dauere nur zehn Minuten. Um sich von ihm zu befreien, sagt sie «nicht jetzt» – so zumindest steht es in der Anklageschrift. Als jemand an die WC-Türe klopft, lässt der Mann von ihr ab.

Stunden später findet ein Bekannter Nikolic weinend auf einer Matratze in einem Zimmer neben dem Partyraum. Sie erzählt, ihr sei plötzlich übel gewesen. Sie habe sich im WC übergeben müssen, der Mann sei ihr gefolgt und habe ihr Hilfe angeboten. Er habe sie auf die Matratze gelegt und das Zimmer von innen abgeschlossen. Er habe sie aufgefordert, ihre Kleidung auszuziehen. Sie habe sich geweigert und gesagt, dass ihr kalt sei. Er habe insistiert, und irgendwann habe sie erschöpft aufgehört, sich zu wehren. Der Mann habe sie bis auf den BH ausgezogen und sie geschändet.

Die Freunde überreden Nikolic, Anzeige zu erstatten, und bringen sie ins Unispital. Dort wird die DNA des mutmasslichen Täters festgestellt. Und eine Probe von Ilaria Nikolics Haaren zeigt: Jemand hat Nikolic K.-o.-Tropfen verabreicht.

Das Urteil lautet: schuldig

DNA-Analysen beweisen: Der Unbekannte von der Bäckeranlage, der Schläger vom Hauptbahnhof und der Mann von der Party sind ein und dieselbe Person: Pablo Martinez*, geboren 2000 in der Dominikanischen Republik.

Im April kommt es am Bezirksgericht Zürich zur Verhandlung. Dort trifft Ilaria Nikolic erstmals seit der Party wieder auf den mutmasslichen Täter. Sie wirkt gefasst. Doch nachdem der Staatsanwalt sein Plädoyer vorgetragen hat, verlässt sie den Saal. Ihre Anwältin sagt danach, Nikolic leide an Schlafstörungen und Panikattacken. Sozial habe sie sich zurückgezogen. Ein Motivationssemester habe sie abgebrochen.

Der mutmassliche Täter Martinez streitet die beiden Vergewaltigungen ab und redet die Prügelattacke klein. Der Staatsanwalt kontert, Martinez’ Aussagen seien «haarsträubend und unglaubwürdig».

So habe Martinez in einer ersten Befragung etwa gesagt, seine DNA sei am Hals von Sanchez gefunden worden, weil diese ihn vor dem Klub spielerisch aufgefordert habe, sie zu würgen. Vor Gericht erzählte er schliesslich eine andere Version: Die DNA stamme von den Küsschen auf die Wange, die er ihr zur Begrüssung gegeben habe.

Die Richter überzeugte er mit dieser Aussage nicht. Das Gericht verurteilt Martinez wegen Vergewaltigung, Schändung, sexueller Nötigung und mehrfacher einfacher Körperverletzung zu 8 Jahren Freiheitsstrafe. Es setzt die Strafe damit sogar noch sechs Monate höher an als von der Staatsanwaltschaft gefordert. Martinez wird zudem 10 Jahre des Landes verwiesen und muss den Opfern Schadenersatz und Genugtuung zahlen.

* Die Namen aller Beteiligten sind geändert. Das Urteil DG220166-L ist noch nicht rechtskräftig.

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Florian Schoop

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Last Updated: 10/15/2023

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